9punkt - Die Debattenrundschau
Kann man lernen, aber nicht lehren
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2023. In der NZZ verabschiedet Robert Misik mit George Orwell den Pazifismus als ernstzunehmende politische Position. In der FR verteidigt Susan Neiman die komplizierte Moral gegen die Einfachheit des Autoritarismus. In der FAZ plädiert Eva Menasse für historische Expertise und Gelassenheit im Meinungskampf. Die SZ hegt Zweifel an der Aufrichtigkeit einer feministischen Außenpolitik. Spiegel und taz recherchieren zu den Vergiftungen junger Frauen und Mädchen im Iran.
Efeu - Die Kulturrundschau
vom
11.03.2023
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Ideen
In der NZZ singt Robert Misik eine Eloge auf George Orwell, seine intellektuelle Redlichkeit, seinen Witz und seinen undogmatischen Sozialismus. Und er stellt fest, dass trotz einiger politischer Kehrtwendungen Orwell wirklich absolut nichts vom Pazifismus hielt: "1942 nannte Orwell den Pazifismus 'objektiv profaschistisch' und fügte hinzu: 'Das ist ganz weitgehend unumstritten. Wenn du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen. Es gibt auch keine Möglichkeit, irgendwie außerhalb eines solchen Krieges zu bleiben wie dem gegenwärtigen.' Pazifistische Propaganda sei daher 'in anderen Worten eine Hilfeleistung für den Totalitarismus'. Unmittelbar nach Kriegsende und der Nazi-Kapitulation schrieb er in seinen 'Notes on Nationalism', die Mehrheit der Pazifisten gehöre 'entweder zu eigenartigen religiösen Sekten, oder sie sind ganz einfach Humanisten, die es ablehnen, irgendjemandem das Leben zu nehmen, und die über dieses elementare Prinzip hinaus jede weitere Überlegung ablehnen. Aber es gibt eine kleine Gruppe intellektueller Pazifisten, deren reales, doch uneingestandenes Motiv der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus ist.'"
In einem ellenlangen Interview in der FR befragt Michael Hesse die jüdische Philosophin Susan Neiman über die Legitimität von Waffenlieferungen, die Faschisten in der israelischen Regierung und die Neigung, moralische Klarheit mit Einfachheit zu verwechseln: "Wir hoffen, Regeln zu haben, die uns alles erklären: das ist böse, das ist schlecht. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich keine Regeln angeben kann. Ich kann hier nur Kant zitieren. Kant hat in der 'Kritik der reinen Vernunft' die Urteilskraft thematisiert. Sie ist dafür zuständig, allgemeine Regeln auf Einzelfälle anzuwenden, das kann man lernen, aber nicht lehren, wie er sagt... Was viele vergessen: Wir haben moralische Bedürfnisse, wir sind nicht nur interessengeleitet. Wir wollen nach einem moralischen Kompass agieren. Natürlich können wir korrupt sein und Eigeninteressen über alles andere stellen, aber wir haben auch Scham und handeln eben auch nicht aus Eigeninteressen, sondern nach moralischen Normen. Das Schrecklichste an Trump war, dass der mächtigste Mann der Welt überhaupt keinen Begriff von Moral oder Normen hat. Doch die meisten von uns wollen moralische Klarheit."
In einem ellenlangen Interview in der FR befragt Michael Hesse die jüdische Philosophin Susan Neiman über die Legitimität von Waffenlieferungen, die Faschisten in der israelischen Regierung und die Neigung, moralische Klarheit mit Einfachheit zu verwechseln: "Wir hoffen, Regeln zu haben, die uns alles erklären: das ist böse, das ist schlecht. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich keine Regeln angeben kann. Ich kann hier nur Kant zitieren. Kant hat in der 'Kritik der reinen Vernunft' die Urteilskraft thematisiert. Sie ist dafür zuständig, allgemeine Regeln auf Einzelfälle anzuwenden, das kann man lernen, aber nicht lehren, wie er sagt... Was viele vergessen: Wir haben moralische Bedürfnisse, wir sind nicht nur interessengeleitet. Wir wollen nach einem moralischen Kompass agieren. Natürlich können wir korrupt sein und Eigeninteressen über alles andere stellen, aber wir haben auch Scham und handeln eben auch nicht aus Eigeninteressen, sondern nach moralischen Normen. Das Schrecklichste an Trump war, dass der mächtigste Mann der Welt überhaupt keinen Begriff von Moral oder Normen hat. Doch die meisten von uns wollen moralische Klarheit."
Religion
In der SZ ahnt Anntte Zoch, dass die Reformen, die der Synodale Weg verlangt, der Katholischen Kirche nicht retten wird. Aber sie helfen vielleicht gegen das Zynischwerden: "Selbst wenn alle Reformideen morgen umgesetzt würden - eine Erosion der Institution Kirche wird sich nicht verhindern lassen. Die Protestanten haben ja all das längst, was die katholischen Reformer fordern: Es gibt Pastorinnen und Bischöfinnen, keinen Zölibat, synodale Mitbestimmung der Gläubigen ist in der Kirchenverfassung fest verankert. Dennoch sind im vergangenen Jahr 380.000 Menschen aus den protestantischen Kirchen ausgetreten, ein neuer Rekord. An Säkularisierung und Individualisierung werden auch Reformen nichts ändern. Die Kirchen werden schrumpfen, das ist klar. Es ist allerdings ein Unterschied, ob nur die Gleichgültigen austreten - oder die frustrierten, aber eigentlich hoch engagierten Christen. Diese Leute braucht die Kirche."
Europa
In der FAZ kann auch Niklas Bender nichts Gutes an Emmanuel Macrons Rentenreform finden. Für den Unmut der streikenden Franzosen hat er durchaus Verständnis, aber nicht für ihre Destruktivität der Opposition: "Die reflexhafte Gegnerschaft von Gewerkschaften und Straße wirken wenig konstruktiv: Die berühmte französische Protestkultur, auf die mancher deutsche Linke neidisch schaut, ist eine Kultur der Diskussionsvermeidung. Zu diskutieren aber gäbe es wichtige Fragen: Wer sollte länger arbeiten? Warum und unter welchen Bedingungen? Wäre es in einem umlagefinanzierten System nicht sinnvoll, das Aufziehen von Kindern stärker zu berücksichtigen? Wie kann bei wachsender Wertschöpfung Lebensqualität gewährleistet werden? Die Debatte ist in Deutschland aus Mutlosigkeit, aus simplistischer Zahlengläubigkeit und demographischem Pessimismus verstummt. In Frankreich droht sie im Gestammel der Regierung und im reflexhaften Krakeelen der Opposition unterzugehen."
Politik
Der Westen schwelgt gern in seinen eigenen noblen Werten, ärgert sich Sonje Zekri in der SZ und sieht auch Annalena Baerbocks feministische Außenpolitik in dieser Tradition: Buzzwords und Anspruchshaltung, aber im Ernstfall keine Solidarität: "Dass die schönen Werte deutscher Außenpolitik in afrikanischen oder asiatischen Ländern nicht zünden, hat deshalb nicht nur damit zu tun, dass Chinesen und Russen Autobahnen, Fabriken und Museen bauen, ohne nach Menschenrechten zu fragen, dass es den Menschen in diesen Ländern also egal ist, ob Peking Seltene Erden abtransportiert oder russische Wagner-Söldner Massaker in Mali verüben. Sondern damit, dass Senegalesen, Ägypter oder Afghaninnen den Eindruck haben, dass die deutschen oder europäischen oder eben 'westlichen' Werte eine exklusive Veranstaltung sind, im besten Falle Heuchelei, im schlimmsten die Verschleierung eigener Interessen."
Im Spiegel berichtet Susanne Koebl von den Vergiftungserscheinungen, unter denen junge Frauen und Mädchen im Iran leiden. Mehr als 7.000 Iranerinnen soll es schon getroffen haben. Die Stimmung im Land heizt sich extrem auf, psychische Ursachen will Koebl nicht ausschließen: "Auffallend ist immerhin, dass Lehrer und anderes Schulpersonal bisher kaum Symptome zeigen. Man kann sich durchaus fragen, wie sie von der toxischen Wirkung verschont bleiben können, wenn das Gift in Klassenräumen verströmt wird. Was auch immer die Ursache des Phänomens ist - seine politische Ausschlachtung innerhalb des Machtkampfes in Iran ist im vollen Gange. Anti-Regime-Aktivisten thematisieren die Vorfälle intensiv, vor allem in den sozialen Netzwerken. International bekannte Oppositionelle wie die US-Iranerin Masih Alinejad sammeln und posten fast täglich neue Videos. Die Bilder zeigen wütende Eltern von mutmaßlich vergifteten Schülerinnen: 'Revolutionswächter! Ihr seid unser IS', das ist der Slogan, der heute auf den Straßen Teherans zu hören ist, schreibt Alinejad. Der Beitrag wurde mehr als 2000-mal geteilt."
In der taz weiß Teseo La Marca zwar, dass es im Kosovo und in Palästina ähnliche Phänomene einer Massenerkrankung gegeben hat, sieht aber keine Hinweise auf Hysterie: "Ein Arzt, der in einer Notaufnahme in der südiranischen Provinz Chuzestan arbeitet und auch vergiftete Schülerinnen behandelt hat, sieht die These eines psychisch bedingten Phänomens skeptisch. Bei den Schülerinnen, die bei ihm eingeliefert wurden, sei an den Kleidern deutlicher Geruch nach verfaulten Eiern und Essig wahrnehmbar gewesen. 'Mindestens ein Teil der gemeldeten Symptome muss auf reale Vergiftungen zurückgehen', meint der Arzt, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, im Gespräch mit der taz."
Im Spiegel berichtet Susanne Koebl von den Vergiftungserscheinungen, unter denen junge Frauen und Mädchen im Iran leiden. Mehr als 7.000 Iranerinnen soll es schon getroffen haben. Die Stimmung im Land heizt sich extrem auf, psychische Ursachen will Koebl nicht ausschließen: "Auffallend ist immerhin, dass Lehrer und anderes Schulpersonal bisher kaum Symptome zeigen. Man kann sich durchaus fragen, wie sie von der toxischen Wirkung verschont bleiben können, wenn das Gift in Klassenräumen verströmt wird. Was auch immer die Ursache des Phänomens ist - seine politische Ausschlachtung innerhalb des Machtkampfes in Iran ist im vollen Gange. Anti-Regime-Aktivisten thematisieren die Vorfälle intensiv, vor allem in den sozialen Netzwerken. International bekannte Oppositionelle wie die US-Iranerin Masih Alinejad sammeln und posten fast täglich neue Videos. Die Bilder zeigen wütende Eltern von mutmaßlich vergifteten Schülerinnen: 'Revolutionswächter! Ihr seid unser IS', das ist der Slogan, der heute auf den Straßen Teherans zu hören ist, schreibt Alinejad. Der Beitrag wurde mehr als 2000-mal geteilt."
In der taz weiß Teseo La Marca zwar, dass es im Kosovo und in Palästina ähnliche Phänomene einer Massenerkrankung gegeben hat, sieht aber keine Hinweise auf Hysterie: "Ein Arzt, der in einer Notaufnahme in der südiranischen Provinz Chuzestan arbeitet und auch vergiftete Schülerinnen behandelt hat, sieht die These eines psychisch bedingten Phänomens skeptisch. Bei den Schülerinnen, die bei ihm eingeliefert wurden, sei an den Kleidern deutlicher Geruch nach verfaulten Eiern und Essig wahrnehmbar gewesen. 'Mindestens ein Teil der gemeldeten Symptome muss auf reale Vergiftungen zurückgehen', meint der Arzt, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, im Gespräch mit der taz."
Geschichte
Bildrecherchen sind ein wenig aus der Mode gekommen, aber durchaus sinnvoll, wie der Historiker Andreas Kötzing in einem interessanten Thread zeigt.
Die FAZ druckt Eva Menasses Rede zum Gedenken an die Proteste in der Rosenstraße von 1943, mit denen nichtjüdische Frauen ihre jüdischen Ehemänner aus der Gestapo-Haft herausbekamen. Umgekehrt ließen sich übrigens die meisten nichtjüdischen Männer von ihren jüdischen Frauen scheiden. Auch Menasses katholische Großmutter blieb mit ihrem jüdischen Mann verheiratet. Menasses Schlussfolgerung: "Mit einem glasklaren Satz von Michel Friedman: 'Wenn du mit deinem Argument recht hast, brauchst du nicht Auschwitz dafür. Wenn du nicht recht hast, nützt dir Auschwitz auch nichts, aber du hast es missbraucht.' Gerade weil wir an der Schwelle stehen, die Erinnerung an die NS-Verbrechen ohne die letzten Zeitzeugen in die Zukunft tragen zu müssen, glaube ich, dass es an der Zeit wäre, die Genealogien zu verlassen, mit der heutige Debattenteilnehmer in Nachfahren von Täter- und Opferfamilien sortiert werden oder sich selbst sortieren. Zur Beglaubigung einer produktiven Position braucht es das nicht mehr. Die Ermordung meiner Urgroßmutter Berta Menasse in Theresienstadt stützt genauso wenig irgendeine meiner Meinungen, wie es sie entwertet, dass ihre Schwiegertochter, meine tapfere Großmutter Dolly, nicht formell zum Judentum übertrat. Andere Kriterien sind wichtiger geworden, historische Expertise, moralische Standfestigkeit, Sorgfalt und die Gelassenheit, auch andere begründete Meinungen ohne Empörung gelten zu lassen."
Eines der bekanntesten Motive des Brandes zeigt Passanten, die beobachten, wie die Flammen aus der Kuppel emporsteigen. Das Bild wurde jedoch nachträglich retuschiert, um dramatischer zu wirken. 2/ pic.twitter.com/OH3V2TiZph
- Andreas Kötzing (@AKoetzing) March 9, 2023
Die FAZ druckt Eva Menasses Rede zum Gedenken an die Proteste in der Rosenstraße von 1943, mit denen nichtjüdische Frauen ihre jüdischen Ehemänner aus der Gestapo-Haft herausbekamen. Umgekehrt ließen sich übrigens die meisten nichtjüdischen Männer von ihren jüdischen Frauen scheiden. Auch Menasses katholische Großmutter blieb mit ihrem jüdischen Mann verheiratet. Menasses Schlussfolgerung: "Mit einem glasklaren Satz von Michel Friedman: 'Wenn du mit deinem Argument recht hast, brauchst du nicht Auschwitz dafür. Wenn du nicht recht hast, nützt dir Auschwitz auch nichts, aber du hast es missbraucht.' Gerade weil wir an der Schwelle stehen, die Erinnerung an die NS-Verbrechen ohne die letzten Zeitzeugen in die Zukunft tragen zu müssen, glaube ich, dass es an der Zeit wäre, die Genealogien zu verlassen, mit der heutige Debattenteilnehmer in Nachfahren von Täter- und Opferfamilien sortiert werden oder sich selbst sortieren. Zur Beglaubigung einer produktiven Position braucht es das nicht mehr. Die Ermordung meiner Urgroßmutter Berta Menasse in Theresienstadt stützt genauso wenig irgendeine meiner Meinungen, wie es sie entwertet, dass ihre Schwiegertochter, meine tapfere Großmutter Dolly, nicht formell zum Judentum übertrat. Andere Kriterien sind wichtiger geworden, historische Expertise, moralische Standfestigkeit, Sorgfalt und die Gelassenheit, auch andere begründete Meinungen ohne Empörung gelten zu lassen."
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