9punkt - Die Debattenrundschau

Diese romantische Vergaffung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2024. In der NZZ staunt der Schriftsteller Sergei Gerasimow über die "Faschizophrenie" Putins, der sanitäre Zonen in Charkiw einrichten will. In der FR geißelt der amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi Israel als "siedlungskoloniales Projekt". In der Welt wundert sich Mirna Funk nicht über die antiisraelischen und antisemitischen Demonstrationen: Juden, die sich wehren, sind unbeliebt. Derweil wächst im Iran der Druck auf Frauen, das Kopftuch tragen zu müssen, berichtet die FAZ. Die taz stellt die Organisation "Men Having Babies" vor, die liebende Leihmütter an schwule Männer vermittelt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.05.2024 finden Sie hier

Politik

Buch in der Debatte

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Der an der Columbia University lehrende amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi hat gerade das Buch "Der Hundertjährige Krieg um Palästina" veröffentlicht. Im großen FR-Gespräch mit Hanno Hauenstein teilt er aus: Die Proteste an amerikanischen Universitäten seien keineswegs antisemitisch, findet er. Israel verurteilt er als "siedlungskoloniales Projekt". Außerdem müssten die Israelis Verhandlungen mit der Hamas führen, die sei schließlich demokratisch gewählt worden: Die Hamas habe von der windelweichen PLO "Die Fackel des bewaffneten Kampfes" übernommen. "Hätte die PLO erreicht, was sie anstrebte - einen palästinensischen Staat auf einem winzigen Teil von etwa 20 Prozent Palästinas - dann gäbe es die Hamas heute nicht. Die Hamas hat sich diesem Prozess widersetzt und war erfolgreich, auch weil ein unabhängiger, souveräner palästinensischer Staat im Rahmen des Oslo-Prozesses unter keinen Umständen verwirklicht werden konnte. Dieser Prozess führte zu einer Verstärkung der israelischen Besatzung und Kolonisierung, zu einer Verelendung des palästinensischen Volkes, zu einer Zerstückelung des Westjordanlandes in kleine Bantustans. Das ist es, was die Hamas zur Volksbewegung gemacht hat."

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Die antizionistische Welle an Universitäten und in den (sozialen) Medien überrascht die in der DDR aufgewachsene Autorin Mirna Funk, aktuelles Buch "Von Juden lernen", in der Welt nicht: "Im guten alten Kalten Krieg (…) hatten sich die Sowjets nämlich radikal dem Anti-Zionismus verschrieben und wollten durch Allianzen mit der arabischen Welt ein Gegengewicht zu den USA schaffen. Am Anfang, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Sowjetunion allerdings noch zionistisch und positiv gegenüber Israel eingestellt. Was daran lag, dass - und jetzt müssen alle auf beiden Seiten ganz stark sein - Israel ein sozialistischer Staat war. Im Übrigen blieb er das bis Anfang der Achtzigerjahre. (…) Als dann aber Israel im Laufe der Zeit stärker mit den USA kooperierte, platzte den Sowjets der Kragen. Sofort war Schluss mit lustig, und die israelischen Genossen waren keine Genossen mehr, sondern nur noch eine 'retrogressive nationalistische Bourgeoisie' und 'wurzellose Kosmopoliten'. Ganz besonders schlimm wurde es dann ab 1967. Sechstagekrieg. Da hatten die schwachen, muskellosen Juden doch plötzlich in Windeseile die arabischen Armeen niedergemäht, weil sie sich nicht ihrem imperialistischen Traum unterwerfen wollten. Na, so was! Da flippten sogar die Deutschen direkt aus. Wenn man sich Spiegel-Cover aus der Zeit anschaut, dreht sich einem der Magen um. Denn sich gegen Imperialismus wehren, das dürfen Juden nicht."

In der NZZ erinnert der amerikanische Historiker Andrew Preston indes an die ebenfalls an der Columbia University stattfindenden Proteste gegen den Vietnamkrieg im Jahr 1968, in deren Folge Präsident Lyndon B. Johnson zurücktrat. Für Preston sind die Parallelen zu heute offenkundig: "Wie 1968 spiegeln die heutigen Unruhen auf den Universitätsgeländen auch einen Konflikt innerhalb der amerikanischen Linken und Progressiven wider. Auf der einen Seite sind die Proteste eine linke Form der Gegenreaktion auf die anfänglich unbeirrte Unterstützung Israels durch einen demokratischen Präsidenten. Israel ist ein wichtiger strategischer Verbündeter der USA, und die Unterstützung des jüdischen Staates ist spätestens seit den 1960er Jahren fester Bestandteil der Demokratischen Partei. Damals unterstützte Lyndon Johnson das Land während des Krieges von 1967, bei dem das Westjordanland und der Gazastreifen unter israelische Kontrolle kamen. Doch trotz der jahrzehntelangen Unterstützung stehen die meisten heutigen Demokraten den derzeitigen israelischen Kriegsanstrengungen kritisch gegenüber und fordern einen sofortigen Waffenstillstand - unabhängig davon, was mit der Hamas geschieht."

Zur gleichen Zeit, als der Iran Israel angriff, erhöhte die iranische Regierung den Druck auf Frauen, die sich weigern, das Kopftuch zu tragen, berichtet Friederike Böge in der FAZ. "Es war der Beginn einer neuen Kampagne, die bis heute anhält. Der Sicherheitsrat hat sie 'Projekt Licht' getauft. Laut dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte gab es 'umfangreiche Festnahmen und Belästigungen von Frauen und Mädchen - viele von ihnen zwischen 15 und 17 Jahre alt'. An dem 'brutalen Vorgehen' seien Uniformierte und Polizisten in Zivil beteiligt. Auch Überwachungskameras würden eingesetzt. Zudem seien Hunderte Geschäfte und Unternehmen geschlossen worden, weil sie Frauen ohne Kopftuch bedient oder beschäftigt haben sollen. In den Monaten zuvor hatte sich die Sittenpolizei aus Sorge vor wütenden Reaktionen der Bevölkerung weitgehend zurückgehalten. ... Frauen in Teheran berichten am Telefon von einer neuen Atmosphäre der Angst. Eine Sprachwissenschaftlerin, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will, erzählt von einer Freundin, die von der Sittenpolizei gezwungen wurde, immer wieder den Satz 'Das Blut in unseren Adern ist ein Geschenk an unseren Führer' zu wiederholen."
Archiv: Politik

Europa

Die AfD hegt große Sympathien für die Autokratien in China und Russland, "zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Die AfD ist in ihrer Käuflichkeit den etablierten Parteien verwandt, sie agiert nur dreister, dümmer und draufgängerischer. In ihrer romantischen Verklärung von Russland und China stehen ihr Sahra Wagenknecht, SPD und CDU in nichts nach", meint in der taz der Satiriker Florian Schroeder. "Sahra Wagenknecht hat gerade erst bei The Pioneer zu Protokoll gegeben, Putin sei zwar ein autoritärer Herrscher, habe aber die Russen aus einer Demütigung herausgeführt. Unglücklich, dass dafür zehntausend ukrainische Zivilisten und Hunderttausende Soldaten mit dem Leben bezahlen mussten." Aber auch Manuela Schwesig von der SPD, Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) und Maximilian Krah (AfD) bekommen von Schroeder ihr Fett weg, der am Ende warnt: "Diese romantische Vergaffung Russlands und Chinas, der viele Linke, Linksliberale und vereinzelte Konservative den Boden bereitet haben, hat nur ein Ziel: den amerikanischen Liberalismus als Quelle allen Übels anzugreifen, weil Freiheit offenbar noch gefährlicher erscheint als brutale Autokratien."

In der Zerstörung von Charkiw und der geplanten Einrichtung "sanitärer Zonen" offenbart sich dem vor Ort lebenden Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ die ganze Schizophrenie, ja: "Faschizophrenie" Putins: "Sanitäre Zonen werden in der Regel um Einrichtungen herum eingerichtet, wo es eine Verschmutzung oder eine Kontamination gegeben hat. Allein der Gedanke an eine sanitäre Zone in der Ukraine spricht Bände darüber, was die Kremlführung, die sich so rührend um das Wohlergehen der Russen und der russischsprachigen Bürger bei uns kümmert, wirklich über diese denkt: Einerseits lieben wir euch so sehr, dass wir das Leben Hunderttausender Russen aufs Spiel setzen würden, nur damit eure Rechte nicht verletzt werden, andererseits behandeln wir euch wie eine stinkende Müllhalde, einen Rinderfriedhof oder einen Milzbrandherd und sind bereit, euer Gebiet in eine Wüste zu verwandeln - mit euch oder ohne euch, das ist uns egal."
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Gesellschaft

"Muslim Interaktiv" hat Blut geleckt und möchte gern mehr von der Aufmerksamkeit, die seiner Kalifen-Demo vor zwei Wochen zuteil wurde. Das ist ärgerlich, meint in der taz Nadine Conti, aber es muss wohl ausgehalten werden: "Ein Verbotsverfahren muss sorgfältig vorbereitet sein, es braucht Material, man muss verhindern, dass die gleichen Leute unter einem anderen Namen einfach weitermachen. Denn viel gefährlicher als diese großspurigen öffentlichen Auftritte ist das, was da im Netz und hinter verschlossenen Türen passiert. Und wenn sich eine wachsende Anzahl von Jugendlichen davon angezogen fühlt, ist das das eigentliche Problem, um das man sich kümmern muss. 'Extremisten geben die falschen Antworten auf die richtigen Fragen', hört man in diesem Zusammenhang immer wieder. Und zu den richtigen Fragen, der Art von Fragen, bei denen sich Schulen und andere Institutionen zu oft wegducken, gehört: Warum können wir nicht über Gaza reden? Warum tut ihr so, als würde es keinen antimuslimischen Rassismus geben?" Man kann nicht über Gaza reden? Im Ernst?

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Den Aufstieg des Populismus erklärt der Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky in seinem aktuellen Buch "Was Populisten wollen" im Tagesspiegel-Gespräch als "Ideologie der Selbstermächtigung": "Wir sehen, dass die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland über die Jahre sukzessiv zurückgegangen ist. In einer Umfrage aus dem Jahr 2022 äußerten 28 Prozent der Befragten die Überzeugung, in einer Scheindemokratie zu leben, in der sie nichts zu sagen hätten. Gleichzeitig sehen wir, dass immer mehr Menschen eine negative Sicht auf ihre eigene Zukunft entwickeln. Ich glaube, das Misstrauen in die Politik hat viel mit der Angst vor Statusverlust zu tun. Und die hängt aus meiner Sicht wiederum eng mit den Sozialstaatsreformen der 90er Jahre zusammen - sei es in den USA, in Großbritannien oder in Deutschland, wo Anfang der 2000er Jahre Hartz IV eingeführt wurde."

"Wir müssen unsere Demokratie resilienter gegen Angriffe machen", fordert der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss im Zeit Online-Gespräch, in dem er zu mehr Opferbereitschaft auffordert: "Alle müssen sich fragen: Was kann ich für die Demokratie tun? Keine neue Erkenntnis: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst. Das ist eine so einfache wie schwierige Aufgabe. Sie bedeutet in letzter Konsequenz, dass für mich als Demokrat mein persönliches Leben nicht das Wichtigste ist. Mein Interesse steht nicht über meinen Idealen, steht nicht über der Freiheit oder der Gerechtigkeit. Alleine kann niemand frei sein, dazu braucht es eine freie Gesellschaft. Auch Gerechtigkeit gibt es nur kollektiv, und Frieden schließlich kann es nur in einer gerechten Gesellschaft geben."

"Wir sind weit, weit entfernt von den Rahmenbedingungen der Weimarer Republik, glücklicherweise, und man sollte jetzt auch nicht anfangen, das Ende der Weimarer Republik sozusagen schon für die Bundesrepublik zu prognostizieren", sagt im FR-Gespräch Stephan Zänker vom Haus der Weimarer Republik, ergänzt aber: "Demokratie wird immer angegriffen; es ist ein Normalzustand, dass es antidemokratische Kräfte gibt. Die haben auch in der Weimarer Republik gewirkt, und dort exemplarisch in besonderer Ausprägung, so dass man daraus natürlich auch lernen kann, welche Gegenmaßnahmen sinnvoll sind und welche damals nicht geholfen haben."

In der taz stellt Laura Lückemeyer die Organisation "Men Having Babies" vor, die sich Ende April in Berlin traf. Lückemeyer durfte offiziell als einzige Reporterin von der Veranstaltung berichten. "Bei MHB geht es darum, schwule Männer über den Zugang zur Leihmutterschaft zu informieren. Die Veranstaltung ist öffentlich, Mitglieder zahlen 30, Nichtmitglieder 40 Euro für zweieinhalb Tage Programm. Auf ihrer Webseite bezeichnet sich MHB als 'not-for-profit-corporation', bei Instagram als 'International nonprofit' und verspricht ausführliche Vorträge und persönliche Beratungen von Rechtsexperten und Kinderwunschzentren." Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten, in anderen Ländern wie zum Beispiel den USA erlaubt. Von den Risiken für die Frauen wurde nicht gesprochen. "In einer nun folgenden Paneldiskussion haben alle Teilnehmenden die gleiche Perspektive auf das Thema: Leihmutterschwangerschaft sei ethisch vertretbar, weil die Frauen einen Ausgleich für die Schwangerschaft erhielten. Dennoch versichert eine Leihmutter weiter, dass Frauen es nicht für das Geld tun, sondern weil Frauen es intrinsisch in sich haben, anderen Menschen zu helfen. Mir wird übel."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Weimarer Republik, Populismus

Geschichte

Heute vor fünfzig Jahren trat Willy Brandt in Folge der "Affäre Guillaume" zurück. In der SZ erinnert sich dessen Sohn Matthias Brandt an einen Vater, der am Abend des 07. Mai 1974 lachend vom Fernseher saß. Einer wie Brandt fehlt heute, kommentiert Nils Minkmar ebenda: "Die langfristige Folge des Rücktritts Brandts für die politische Kultur Deutschlands ist nicht zu übersehen: Nie wieder hat es nach ihm ein Kanzler oder eine Kanzlerin zugelassen, als intellektuelle und zweifelnde, nachdenkliche Person zu gelten, die zugleich keine Scheu vor den schönen Seiten des Lebens zeigt. Mitten in der politischen Krise der SPD, die seinem Rücktritt vorausging, lud die Bundestagsfraktion die Schriftsteller Günter Grass, Thaddäus Troll und Heinrich Böll zum Austausch. Böll sagte anschließend, offenbar sei es gerade Mode, Brandt 'fertigzumachen'. Nie wieder sollten Schriftsteller in Deutschland eine solch politische Rolle spielen. Nach seinem Rücktritt am 7. Mai vor 50 Jahren galt die von Brandt verkörperte geistige und politische Kreativität, die Verhältnisse hinterfragt und ändern möchte, als frühes Symptom von Schwäche. Ihm folgten im Amt des Kanzlers ein Macher, ein Aussitzer oder Kombinationen davon."
Archiv: Geschichte