Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2003. In der SZ kennt Timothy Garton Ash die Lösung für Europas dringlichste Probleme: Cailfornication. In der FR hält es Arturo Arango für einen Riesenfehler, dass Deutschland nicht an der Buchmesse in Havanna teilnehmen wird. Die taz definiert Konzeptkunst. Und die FAZ staunt über die verblüffende Selbstherrlichkeit spanischer Politik.

SZ, 02.09.2003

"Californication" nennt der Historiker Timothy G. Ash frei nach den Red Hot Chili Peppers eine mögliche "Lösung des Problems der ethnischen Unterschiede" - und empfiehlt Europa in einem wunderbar ironischen und zugleich klugen Artikel das Konzept unter anderem auch zur Bekämpfung seiner zunehmenden Überalterung. Seine Grundlagen erklärt er so: "Wenn Männer und Frauen bei ihrer Wahl des Partners, mit dem sie Kinder haben wollen, konsequent weder ethnischer Zugehörigkeit noch Rasse Beachtung schenken würden, wenn die aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder und deren Kinder ebenso handelten, dann wäre irgendwann der Punkt erreicht, an dem nicht nur allen Rassen-Stereotypen, sondern auch der politisch korrekten 'ethnischen Quote' die Voraussetzung entzogen wäre. Auf dem Fragebogen müsste man dann bei 'ethnische Zugehörigkeit' nur noch 'Mensch' ankreuzen."

Immer "bizarrer" werde der Streit zwischen Polen und Tschechien um das das "Zentrum gegen Vertreibungen" weiß Thomas Urban. "In einer Zeit, in der von einem demokratischen Deutschland keine politische Bedrohung mehr ausgeht, dürfen die jungen Demokratien Polen und Tschechien auch düstere Kapitel der eigenen Geschichte nicht länger verdrängen."

Als den - ziemlich unfreiwilligen - "Proletarier unter den Stars" würdigt Fritz Göttler Charles Bronson, der mit 81 Jahren in Los Angeles gestorben ist; ein weiterer Nachruf gilt dem amerikanischen Philosophen Donald Davidson. Till Briegleb stellt Gastspiele zum Auftakt des Laokoon-Festivals in Hamburg vor, vom Lido berichtet Rainer Gansera über Filme von Bernardo Bertolucci, Manoel de Oliveira, Lars von Trier und Joergen Leth. Lothar Müller resümiert eine Tagung in Weimar über die Republique des Lettres und Eva-Elisabeth Fischer verabschiedet den restlos ausverkauften Berliner "Tanz in den August" im Hebbel-Theater. Peter Glotz gratuliert dem "Aufklärer" Harry Pross zum 80. Geburtstag.

In der Kolumne Zwischenzeit räsoniert Wolfgang Schreiber über die Kapitulation des Musikers vor der Vollkommenheit seiner technischen Reproduzierbarkeit - und deren zuweilen mutwillige Folgen. "akis" informiert über Abspaltungsbewegungen nicht nur in der anglikanischen Kirche, und Burkhard Müller bringt uns den italienischen Wald näher.

Besprochen werden die Ausstellung der Münchner Pinakothek der Moderne über die "Architektur der Obdachlosigkeit", Daniel Barenboims israelisch-arabisches Projekt in Berlin und Bücher, darunter ein Essayband des amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer über Kriege und Kriegserklärungen, Sybille Bedfords Familienroman "Ein Vermächtnis", ein Kunstband zu Dürers Naturdarstellungen, zwei Bücher über die deutsch-israelischen Beziehungen in der Adenauer-Ära und eine Analyse der alt-neuen Frauenfrage. (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 02.09.2003

"Einen Riesenfehler" nennt der kubanische Schriftsteller Arturo Arango im Interview die Absage Deutschlands - zumal als Gastland -, offiziell nicht an der internationalen Buchmesse 2004 in Havanna teilzunehmen. Dadurch verlören nicht die kubanische Regierung, sondern die Leser und Intellektuellen. Die Täuschungen und Enttäuschung durch und über das politische System beschreibt er so: "Ich glaube, einer der Fehler des Sozialismus war, die Ideologie als Zwangsmittel zu benutzen; an Stelle des Geldes benutzt man eben den Glauben. Dies musste zu einer Doppelmoral führen: Ich glaube nicht, aber ich täusche Glauben vor, ich handle wie ein Gläubiger - dadurch entsteht Entfremdung oder, wenn Sie so wollen, eine Art Paranoia."

Robert Kaltenbrunner denkt über die Bedeutung des öffentlichen Raums in Zeiten seines allseits beklagten Schwunds nach. "Die beliebte Klage um den Verlust des öffentlichen Raums will ins Bewusstsein rufen, was als unverzichtbarer Bestandteil der städtischen Kultur mal vernachlässigt, mal in hypertrophe Künstlichkeit gesteigert wird. Doch weder das eine, noch das andere kann das Probate sein. (...) Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass auf einem Platz und zur gleichen Zeit nicht alles möglich ist. Denn der öffentliche Raum der Stadt als Bühne aller kann nicht gleichzeitig ihre Kinderstube sein."

Weitere Artikel: Im Nachruf auf Charles Bronson wird der "Supermacho" zur "archaischen Gewalt gegen das universelle Böse" geadelt. Von den Filmfestspielen in Venedig kommentiert Rüdiger Suchsland Filme von Margarethe von Trotta, Bernardo Bertolucci und Peter Greenaway. Adam Olschewsky resümiert das Jazzfest Saalfelden. In der Kolumne Times mager plädiert Christopher Baethge fürs kalkulierte, weil auch vergnügliche Missverstehen, und in seinen Kindheitserinnerungen aus der Zone erzählt Michael Teztlaff heute, warum er ein Zeit lang partout in die Sowjetunion wollte.

Besprochen werden Gore Verbinskis Piratenfilm "Fluch der Karibik" und der Dresdner "Ring" an der Semperoper, der nun komplett ist.

TAZ, 02.09.2003

Diedrich Diederichsen stellt eine Filmreihe im Berliner Kino Arsenal vor, die die Ausstellung "Conceptionalisms" in der Akademie der Künste begleitet. Dazu stellt er eingangs klar: "'Konzeptkünstler'" hat als Verlegenheitsbegriff für jeden posttraditionellen bildenden Künstler längst den 'Aktionskünstler' abgelöst, den der Spiegel so lange auf jeden applizierte, der sich Spektakuläres ausgedacht hatte, das man unter Personalien melden konnte. Wer schon mal ein Buch gelesen hat und nicht malt oder bildhauert, also etwa 95 von 100 Biennale- und documenta-Teilnehmern, heißt heute 'Konzeptkünstler'."

Cristina Nord diagnostiziert in ihrem Bericht vom Lido die "Krankheiten des Historienfilms". Allen voran: die "schwere Sprache des Symbolischen". So verzichte etwa Margarethe von Trottas Wettbewerbsbeitrag "Rosenstraße" zugunsten "kunsthandwerklichen Dekors und staksiger Dialoge" leider völlig auf die Metaebene, das heißt die Chance, "die eigene Position zu reflektieren: Wie blicke ich heute auf die Ereignisse? Wie schildere ich sie? Was kann ich zeigen, was nicht? Wie sollen sie erinnert werden, und wer erinnert sie?"

Kaum erfunden und schon Legende: In der Serie "Kunst für Daheimgebliebene" bedauert Magdalena Kröner, dass die so genannten "Flash-Mobs", ein Art spontane anonyme Krawallmache im öffentlichen Raum, auch schon wieder der Kommerzialisierung anheim fallen. Gerrit Bartels kommentiert den neuesten Stand in Sachen Random House, Ullstein Heyne List, das Kartellamt und andere. Und auf der Medienseite findet sich ein Hinweis auf die heute startende Serie "24", die erste "Realzeit"-TV-Produktion über den längsten Tag im Leben des FBI-Agenten Jack Bauer alias Kiefer Sutherland, der der Spiegel bereits erhebliches "Suchtpotenzial" bescheinigt hat. Unterm Strich wird der verstorbene Charles Bronson gewürdigt.

Besprochen werden der Piratenfilm "Fluch der Karibik" von Gore Verbinski mit Johnny Depp, der neue Roman von Don DeLillo, "Cosmopolis", zwei Krimis, die in Japan spielen, eine Studie über die "kuschelweiche Supermacht USA" von Joseph S. Nye und ein Porträt des "verkannten" Präsidenten Bill Clinton. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

NZZ, 02.09.2003

Nick Liebmann erzählt von seinen Eindrücken vom 29. Jazzfestival Willisau und stellt fest, dass auch in der Jazzszene der Laptop ein unverzichtbares Untensil geworden ist. Andreas Mauer schreibt einen Nachruf auf den einsamen Wolf und Schauspieler Charles Bronson. Peter Hagmann schwärmt vom Gastspiel des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter Leitung Ingo Metzmachers beim Lucerne Festival. Matthias Grünzig besuchte Wismar und war beeindruckt vom historischen Zentrum der Hafenstadt an der Ostsee, welches seit Mai 2003 zum Weltkulturerbe der Unesco zählt. Dank des neu erbauten Technologiezentrum von Jean Nouvel stellte die Stadt sogar neuerdings, wie Grünzigs versichert, ein "Paradies für Forscher" dar.

Besprochen werden Lea Singers historischer Roman "Wahnsinns Liebe", Jamie O'Neills gelungenes Werk "Im Meer, zwei Jungen" und Frank Mehrings Buch "Sphere Melodies" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.09.2003

Paul Ingendaay feiert den spanischen Autor Jose Maria Ridao, der gerade eine fundamentale Studie "El pasajero de Montauban" über Ideologie, Literatur und nationale Identität vorgelegt hat. " Ingendaay würdigt Ridao als "das rare Beispiel eines spanischen Denkens, das die gemischte religiöse Vergangenheit des Landes - maurisch, jüdisch und christlich - nicht nur beschwört, sondern zum Fundament einer pluralen Tradition erklärt" und verliert auch ein paar allgemeiner Worte zur spanischen Vergangenheitsbewältigung: "Wenn heute bisweilen zu hören ist, die 'transicion' sei noch nicht abgeschlossen, weil Spanien es sich etwa mit der Verarbeitung der Franco-Zeit allzu leicht mache, dann schwingt darin der Verdacht mit, der Aufstieg zum mustergültigen europäischen Partner mit stolzer Wirtschaftsbilanz sei möglicherweise nicht die ganze Wahrheit. Und tatsächlich gibt es Symptome, die der Deutung bedürfen, von den rassistischen Ausschreitungen bei Almeria im Februar 2000 bis zu der immer wieder verblüffenden Selbstherrlichkeit, mit der in Spanien Politik getrieben wird."

Kerstin Holm erzählt von dem russischen Physiker Eduard Krugljakow, der sich dem Kampf gegen die Blüten treibenden Pseudowissenschaften in seinem Land verschrieben hat. Gustav Falke berichtet, wie sich die Comicforscher in Berlin darum mühten, eine Theorie zu finden. Wolfgang Sandner schwärmt von der "Diva dolorosa assoluta", von Edita Gruberova (mehr hier) als "vollendete" Lucia di Lammermoor beim Schleswig-Holstein-Musikfestival. Gina Thomas zeichnet nach, wie Blair seinem Lordrichter gegenübergetreten ist.

Andreas Kilb schreibt den Nachruf auf den "zarten Mann aus Stahl", i.e. Charles Bronson.

Auf Seite "Bücher und Themen" behandelt der Historiker Christoph Schmidt die Ursprünge des modernen Zionismus. Auf der Medienseite annonciert Dietmar Dath natürlich die heute Abend anlaufende Echtzeit-Serie "24".

Besprochen werden Bernardo Bertoluccis Film "Träumer" (den Rezesent Michael Althen von "so verblüffender Direktheit" und von "solcher Demut" findet, "dass einem wirklich die Augen übergehen vor lauter Glück"), eine Schau von Bas Jan Ader im neuen Frankfurter Portikus, Maria Bettetinis "Kleine Geschichte der Lüge, Flavia Bujors Fantasy-Roman "Das Orakel von Oonagh" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).